Flucht vor dem Krieg: Eine junge Ukrainerin berichtet aus ihrer Perspektive

Laut einer Schätzung des Kinderhilfswerkes UNICEF befinden sich rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche unter den Menschen, die seit dem Angriff Russlands die Ukraine verlassen haben. Anastasiya, 17 Jahre alt, gehört zu diesen 2 Millionen Kinder und Jugendlichen. Vor dem Krieg besuchte sie eine berufsbildende Akademie für Abiturient*innen in Mykolaiv, in ihrer Freizeit ging sie gerne in die Musikschule oder ins Theater. Besonders wichtig war ihr auch ehrenamtliches Engagement für verschiedene ukrainische NGOs. Bis Mitte März lebte ihre Familie noch in Charkiw, dann entschieden sie sich zur Flucht nach Deutschland.
Aktuell lebt Anastasiya mit ihren Eltern und zwei jüngeren Schwestern in Wiehl bei einer Familie, ihre Großeltern sind in einer Wohnung des AWO Kreisverbandes Rhein-Oberberg e.V. in Bergneustadt unterbracht. Als Betroffene möchte sie über den Krieg und die Flucht berichten. Ihr ist es ein Anliegen, den von Russland propagierten Falschnachrichten entgegenzuwirken.

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Die Zeit bis zur Flucht

Bereits am ersten Tag der Invasion der Ukraine durch Russland, dem 24. Februar 2022, erlebte Anastasiya einen Bombeneinschlag aus nächster Nähe. Aus Sicherheitsgründen fand das Programm der berufsbildenden Akademie in dieser Zeit nicht mehr auf dem Campus in Mykolaiv statt, sondern in Räumlichkeiten nahe des Flughafens Ivano-Frankivsk in der Westukraine. Am gleichen Tag wurde der internationale Flughafen Ziel des russischen Angriffskrieges. Sie erinnert sich, wie die Fenster des Gebäudes, in dem sie sich befand, durch die Explosion des nahegelegenen Flughafens erschüttert wurden und den Adrenalinschub, den sie spürte. Sie erzählt, dass sie in der Akademie trainiert hatten, in einer solchen Situation nicht in Panik zu erstarren und sich darauf konzentrieren, was zu tun ist. Es gebe sogar eine App für den Luftalarm auf dem Smartphone, so würde man gewarnt, egal wo man gerade sei oder was man tue. Das Kriegs- und Fluchtgeschehen nahm stetig zu. So entschieden ihre Eltern Mitte März, dass sie das Land verlassen werden. Über Freunde von Freunden hatten sie Kontakt zu einem Mitarbeiter des AWO Kreisverbandes Rhein-Oberberg erhalten, der bei einer Unterbringung unterstützen konnte. So fiel die Wahl auf Deutschland.


Gefühle und Gedanken über die Flucht

Für Anastasiya war der Umgang mit der Entscheidung ihrer Eltern nicht leicht. Durch ihr regelmäßiges ehrenamtliches Engagement wollte sie Menschen in Not unterstützen und Hilfe in ihrem Land leisten. So gehe es vielen ihrer Freund*innen, die ebenfalls flüchten mussten. Es fühle sich in gewisser Weise wie Verrat an, in diesem historischen Moment das Land zu verlassen und man fühle Scham, dass man selbst in Sicherheit sei, während andere weiterhin den Angriffen ausgesetzt seien und man nichts tun könne, um das zu verhindern. Vor dem Krieg, so erzählt Anastasiya, sei sie nicht sehr patriotisch gewesen. Mit dem Krieg habe sich ihre Sichtweise verändert. Die Flucht nach Deutschland sei sehr gefährlich gewesen, da im ganzen Land Transportwege zerstört wurden. Zusammen mit ihren Großeltern, Eltern, beiden Schwestern und der Katze seien sie zwei Tage lang in einem Fahrzeug von der Ukraine nach Polen, von Polen nach Deutschland und dann nochmal quer durch Deutschland bis in den Oberbergischen Kreis gefahren. Wie ein Alien habe sie sich gefühlt, als sie in Deutschland ankam. Sie vermisse ihr Zuhause, den Besuch der Akademie, ihre Freunde. Das Schlimmste sei aber, dass niemand wisse, wann sie zurückkehren können.
Dennoch ist sie dankbar für die Unterbringung bei der Familie in Wiehl, bei der sie nun leben. Sie und ihre Familie seien herzlich aufgenommen worden und die Familie aus Wiehl unterstütze bei Alltagsfragen in Deutschland.


Umgang mit dem Krieg

Aktiv zu bleiben und etwas für ihr Land zu tun, sei das Wichtigste für sie, erklärt Anastasiya. Wenn man durchgehend Nachrichten lese oder schaue, habe man irgendwann keine Energie mehr. Wenn negative Gefühle aufkämen, denke sie daran, wie viele Menschen Hilfe benötigen und wünscht sich, dass ihr Land nach dem Krieg noch existiert und es sich in der Zukunft zu einem starken und guten Land entwickelt. Auch schaue sie sich in den Sozialen Medien die Beiträge des ukrainischen Schriftstellers Serhiy Zhadan an, die mit dem Satz „Heute sind wir einen Tag näher an unserem Sieg“ enden.
Anastasiya erzählt auch von den Erlebnissen anderer junger Menschen, so beispielsweise von der gefährlichen Lebenssituation einiger Freunde, die bald die Volljährigkeit erreichen und deshalb nicht ausreisen dürfen. Eine ihrer Freundinnen habe ihre Eltern, die in Mariupol lebten, über Wochen nicht kontaktieren können. Ein anderes Mädchen aus Mariupol in Anastasiyas Alter habe ihre Mutter aufgrund der schlechten Versorgung sterben sehen, der Vater sei durch eine Miene getötet worden. Es sei schwer zu verstehen, dass das gerade im eigenen Land passiere.


Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft

Das Ukrainische Volk müsse nun stark sein, sagt Anastasiya. Selbst wenn der Krieg ende – oder wie sie es ausdrückt – wenn die Ukraine den Krieg gewonnen habe – wisse niemand, in welchem Zustand das Land sei. Ihre Vision sei, dass das Land Teil der Europäischen Union werde und sich eine starke Regierung bilde. Außerdem glaube sie daran, dass Europa die Ukraine beim Aufbau unterstützen und Russland für seine Taten angeklagt werde. Wenn der Zeitpunkt gekommen sei, gehe sie zurück in die Ukraine, um sich am Aufbau zu beteiligen.
Sie sagt, ihre Generation werde in Zukunft eine wichtige Rolle für die Ukraine spielen. Beispielsweise würden Anwält*innen, Ingenieur*innen und gute Politiker*innen in Zukunft benötigt. Auch möchte sie ihre Träume trotz des Krieges nicht aufgeben: Für die nähere Zukunft plant sie ein Studium, vielleicht in Deutschland. Kultur und Kunstgeschichte interessiere sie sehr und sie begeistere sich für ukrainische Folklore. Außerdem möchte sie sich weiterhin ehrenamtlich engagieren.
Dennoch stelle der Krieg alles auf die Probe, berichtet sie. Nach dem Krieg beginne ein neues Kapitel für alle Ukrainer*innen: Historisch, politisch, aber auch persönlich.

 



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